Dein neuer Tierschutzhund

So viele Hunde kommen jetzt aus der Ukraine, Polen, Ungarn und Rumänien. Viele Menschen bieten sich als Pflegestelle an oder werden Hundehalter:in für Tierschutzhunde. Was du bedenken solltest, fasse ich dir hier zusammen.

Inhalt

Du hast einen Tierschutzhund adoptiert oder bist neue Pflegestelle eines Hundes aus dem Tierschutz?

Herzlichen Glückwunsch zu dieser Entscheidung, denn ein neuer Lebensabschnitt startet. Wenn dein neuer Mitbewohner aus dem Kriegsgebiet stammt, wird er leider mit großer Wahrscheinlichkeit mit traumatischen Erfahrungen kommen.

Neben allen weiteren Problemen, die Hunde aus dem Tierschutz sowieso schon mitbringen können, kommen jetzt diverse Dinge dazu, die du unbedingt berücksichtigen musst.

Dein neuer Tierschutzhund kommt an

Die wichtige Information für den Anfang ist, dass dein neuer Tierschutzhund Zeit braucht. Er braucht Zeit, um anzukommen, zu erkunden, sich zu zeigen. Das bedeutet, dass du wirklich erst nach ca. 6 Monaten weißt, wer dein neuer Hund wirklich ist.

Das ist wichtig zu wissen, weil dein Hund zwar natürlich in seinem neuen Zuhause auch sofort lernt, aber mit der Zeit seine eigenen Erfahrungen hervorholt und sich diese mit den neuen Erfahrungen mischen.

Zeit geben und begleiten

Das bedeutet, dass du deinen neuen Hund möglichst entspannt begleiten kannst und ihm Zeit gibst, sein neues Leben kennenzulernen. Es geht im ersten halben Jahr nicht darum, dass er Sitz/Platz/Fuß lernt.

Es geht darum, dass ihr euch kennenlernt, euch gegenseitig respektiert, euch Sicherheit geben könnt und euch lesen lernt. Es ist deine Aufgabe, deinem neuen Hund einen Sicherheitsort aufzubauen und dich als Sicherheitsanker zu etablieren, der ihn leiten und begleiten kann.

Alles Weitere kommt nebenbei Stück für Stück. Zeig ihm die Welt, bleibe ruhig und entspannt, lerne, seinen Körpersprache zu lesen und hol dir eine:n Expert:in, dich dich begleitet, wenn du dich noch unsicher fühlst.

Typische Erfahrungen von Tierschutzhunden

Viele Tierschutzhunde haben ihr Päckchen zu tragen. Um deinen Hund gut zu begleiten, solltest du wissen, was auf dich zukommen könnte. Es reicht leider nicht aus, den Hund nur zu lieben und helfen zu wollen.

Das ist eine wichtige Voraussetzung, aber da du vermutlich mit einem traumatisierten Hund zu tun haben wirst, musst du auch helfen KÖNNEN. Einige typischen Dinge beschreibe ich dir hier:

Sicherung des Tierschutzhundes

Jeder Tierschutzhund, den man noch nicht gut kennt, braucht ein Panikgeschirr.

Das ist ein Geschirr mit einem zweiten Körperriemen. Durch diesen kann der Hund nicht aus dem Geschirr schlüpfen und ist gesichert. Zudem befestigst du eine mindestens 3 m Leine sowohl am Halsband als auch am Geschirr und dein Hund ist doppelt gesichert.

Unterschätze niemals einen Hund in Panik! Du weißt meist nicht, welcher Reiz deinen Hund in Panik versetzt. Das kann ein Geräusch sein oder auch eine bestimmte Person, eine Handbewegung oder ein Gegenstand, den er sieht. Bevor du also deinen neuen Hund nicht einschätzen kannst, solltest du so gut sicher, wie nötig.

Geräuschphobie bei Tierschutzhunden

Hunde aus Kriegsgebieten haben leider häufig erworbene Geräuschphobien. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Sirenen, laute Geräusche, Bodenerschütterungen schlimme Dinge ankündigen und bedeuten. Dafür müssen nicht mal ihre Unterkünfte beschossen worden sein. Die mit den Geräuschen einhergehenden Aufregungen wurden verknüpft und lösen Angst aus, die sich generalisiert.

Es kann also sein, dass dein Hund bei harmlosen Geräuschen beginnt zu zittern, nicht mehr weiterlaufen will, sich versteckt oder einfach starr stehenbleibt. Dein Hund ist jetzt nicht stur oder bockig, sondern verängstigt und überfordert. Er braucht jetzt deine Hilfe. Wenn er massiv flüchten will, dann geh mit ihm wieder nach Hause. Wenn er sich nicht bewegt, dann bleib bei ihm. Manchmal helfen Berührungen und ruhiges Reden, manchmal muss man einfach abwarten.

Ignorieren hilft auf keinen Fall. Auch wenn du der Meinung bist, dass da nichts Gefährliches ist, weiß dein Hund es nicht. Also sei für ihn da. Teste ab und an, ob er wieder fressen kann, indem du Futter auf den Boden wirfst. Rede freundlich mit ihm und nutze so die Möglichkeit von Stimmungsüpertragung, um Sicherheit zu vermitteln. Mach dir Notizen, worauf und wie dein Hund reagiert und wielange es dauert bis er wieder ansprechbar ist.

Zuhause braucht er einen Ort, an dem er sich zurückziehen und sicher fühlen kann. Das kann eine offene Box sein, die etwas schallisoliert wurde mit Styropor. Das kann unter deiner Bettdecke sein oder unter dem Schuhschrank. Wenn dein Hund sich dort anfangs sicher fühlt, dann ermögliche ihm, dorthin zu kommen, wenn es ihm schlecht geht.

Generalisierte Angst und Überforderung

Stell dir vor, du wirst gekidnappt und in einem Palast ausgesetzt mit Aliens, deren Sprache du nicht sprichst und die irgendwas von dir wollen. Komische Gegenstände bewegen sich um dich herum und du verstehst nicht, was wozu dient. So geht es deinem neuen Mitbewohner. Die Verunsicherung durch den Tapetenwechsel kann dazu führen, dass er erstmal vor jeder Kleinigkeit Angst hat, sich zurückzieht, nicht fressen will (oder nur das, was er schon kennt wie bspw trockenes Brot) und auch deine Berührungen nicht mag.

Dein Hund braucht jetzt Zeit und die Chance, neugierig auf dich zu werden. Lass ihm diese Zeit. Sei da. Sitz einfach in der Nähe und beschäftige dich mit dir selbst. Rede freundlich und lass deinen Hund entscheiden, wann er wie Kontakt aufnehmen möchte.

Rausgehen geht nicht? Dann zwinge ihn nicht. Er braucht Zeit. An den ersten Tagen ist auch eine Hundetoilette für drinnen möglich oder dein Hund bleibt im Garten, wenn er sich dort besser fühlt. Dräng dich nicht auf, denn dann zieht er sich womöglich noch mehr zurück. Gib ihm die Chance, dich bei deinem Tun zu beobachten. Du kannst im Garten arbeiten, Leckerchen fallen lassen, dasitzen und lesen und einfach aus den Augenwinkeln beobachten. Nicht gleich streicheln sondern freundliche Hundesprache nutzen. Dreh dich seitlich, starre ihn nicht direkt an, hock dich hin und geh eher weg als auf ihn zu.

Wenn ihr draußen unterwegs seid und dein Hund zuckt bei jedem Geräusch zusammen, kannst du besonders leckere Dinge mitnehmen und bei jedem Geräusch etwas so fallenlassen, dass er es mitbekommt. Wenn er es frisst, kannst du auf diese Art und Weise Geräusche positiv verknüpfen. Spielt dein Hund schon gern mit dir, kannst du ihm auch jedesmal ein Spiel anbieten. Hauptsache, es geschieht was Schönes statt was Schlechtes.

Übersprungsverhalten zum Schutz

Hunde haben verschiedene Schutzmechanismen, wenn sie nicht wissen wie sie mit neuen Situationen umgehen sollen. Sie flüchten sich zum Beispiel in genetisch fixierte Verhaltensweisen wie dem Jagdverhalten. Dein Hund sieht vielleicht absolut entspannt aus, aber sobald ihr draussen seid, strebt er weg und scheint nur jagen zu wollen.

Kaum ein Tierschutzhund jagt tatsächlich ständig. Es hilft ihnen aber beim Abschotten von den vielen überfordernden Reizen. Es ist deshalb nicht sinnvoll gleich in den ersten Tagen ein Antijagdtraining starten zu wollen. Such dir lieber ruhige Strecken aus, die ihr immer wieder geht.

Macht Pausen zwischendurch, so dass dein Hund Zeit hat, alles aufzunehmen und zu verarbeiten, biete ihm ein kleines Spiel zwischendurch an.

Du kannst Leckerchen verstecken oder eine Streichelrunde einlegen, wenn er das möchte. Über Baumstämme klettern oder gemeinsam rennen. Schnüffel mit ihm am nächsten Baum oder rennt zum Spielzergel.

Probiere aus, was dein Hund draussen schon tun kann und wie sehr er sich darauf einlässt. Gib ihm Zeit!

Probleme mit anderen Hunden

Auch Hunde, die in Gruppen gelebt haben, finden nicht automatisch andere Hunde toll. Oft halten sie sich in großen Gruppen zurück, sind aber bei der Begegnung von einzelnen Hunden unhöflich und laut. Oft reagieren sie in den ersten Wochen gar nicht und zeigen dieses Verhalten erst, wenn sie etwas sicherer sind. Für viele Tierschutzhunde bedeuten andere Hunde Futterkonkurrenz oder Verletzungsgefahr. Es kann auch sein, dass sie bei dir angekommen sind und ihr Leben so schön finden, dass jeder fremde Hund eine potentielle Konkurrenz um deine Zuneigung ist.

Das stellt sich oft erst nach einigen Wochen heraus. Achte deshalb gerade anfangs darauf, wie dein Hund aussieht, wenn er andere Hunde trifft. Weicht er aus? Dann erlaube ihm das. Auch hier kannst du das Auftauchen anderer Hunde mit Sicherheit verknüpfen. Nimm ihn an deine Seite, lobe und belohne ihn dafür, dass er bei dir bleibt, stell dich vor den anderen Hund und bleib ruhig. Dein Hund lernt so, dass du ihn beschützt und braucht sich selbst nicht kümmern.

Schütze deine Hündin vor aufdringlichen Rüden und achte darauf, dass dein Rüde niemanden belästigt. Geht anfangs neben anderen Hunden her an der Leine, bevor ihr sie ohne Leine zusammenlasst und gebt den Hunden Zeit, sich einschätzen zu lernen.

Probleme mit anderen Menschen

Einige Hunde aus dem Tierschutz haben unschöne Erfahrungen mit Menschen gemacht. Einige andere haben kaum oder zu wenig Erfahrungen mit Menschen. Beide Hundetypen zeigen deshalb Meideverhalten oder sogar Aggressionsverhalten gegenüber fremden Menschen, Menschen, die nicht der Norm entsprechen, vor allem großen und lauteren Männern oder Kindern. Auch hier bist du die/derjenige, die Schutz bietet. Führe ihn hinter dich und belohne deinen Hund dort. Weiche in einem Bogen aus und erlaube fremden Menschen nicht, deinen Hund einfach anzufassen.

Verknüpfe das Auftauchen von fremden Menschen mit schönen Dingen und dem Aufsuchen von Distanz. Streu Futter hinter dich, wenn jemand auf euch zukommt, geh einen Bogen und stell dich zwischen deinen Hund und den Menschen. Biete deinem Hund in Gegenwart von Menschen schöne Dinge an und besprich mit einer/m Trainer:in, was zu tun ist, damit dein Hund Vertrauen entwickeln kann.

So startet ihr in ein gutes neues Leben

Tierschutzhunde sind so individuell wie jedes Lebewesen. Sie kommen mit so verschiedenen Erlebnissen und Verhaltensweisen, dass es keine generelle Anleitung gibt, was du tun kannst. Einige Punkte gelten jedoch immer und diese kannst du individuell auf deinen neuen Freund anwenden:

Zeit geben: Plane wenigstens 3-6 Monate ein, die dein Hund braucht, um anzukommen. Such dir eine Trainer:in, wenn du Unterstützung brauchst, aber überfordere deinen Hund nicht mit Hundeschulgruppen und zu viel Beschäftigung und Training.

Kennenlernen: Lern deinen Hund kennen. Schreib ein Tagebuch und notiere dir, wie dein Hund in den unterschiedlichen Situationen reagiert. Filme ihn, um später vergleichen zu können. Lern Hundesprache und beobachte sein Verhalten. Biete ihm Kontakt an, aber zwing ihm diesen nicht auf. Menschen wollen streicheln. Hunde vor allem anfangs nicht!

Gemeinsames Hobby suchen: Überlege dir anhand deiner Beobachtungen, was dein Hund gern macht und baue das in euren Tagesablauf mit ein. Schnüffelt er gern? Dann versteck ab und zu etwas und sucht gemeinsam. Klettert er gern? Dann überwinde mit ihm gemeinsam kleine Waldparcours und wachst so zusammen.

Aufgaben gemeinsam lösen: Hilf deinem Hund, indem du ihm Lösungswege zeigst. Zum Beispiel, indem du ihm den richtigen Weg durch das Maislabyrinth zeigst, ihm das nächste Mausloch mit Futter gefüllt bietest oder mit ihm ausweichst, wenn etwas kommt, dass dein Hund nicht mag. Unterstütz ihn beim Abschnüffeln des Baumes und leg selbst etwas aus, was ihr gemeinsam finden und bespielen könnt. So wirst du wichtig und dein Hund lernt, sich an dir zu orientieren.

Bindungsaufbau: Das gemeinsame Aufgaben lösen ist ein Start in den Bindungsaufbau. Wenn du erkennst, dass dein Hund sich unwohl fühlt und Hilfe braucht, arbeitest du an eurer Bindung. Wenn ihr miteinander spielen könnt und euch dadurch kennenlernt, baust du an eurer Bindung. Gemeinsames Kuscheln ist bindungsfördernd (wenn dein Hund es will!) und gemeinsame Interessen stärken eine Bindung.

Gebt euch Zeit, liebt das Leben und genießt es

Bis zu einem gewissen Grad ist auch der Aufbau von Abhängigkeit eine Möglichkeit, eine Bindung zu initiieren. Zum Beispiel, in dem du an der Tür wartest bis dein Hund dich anschaut, bevor du die Tür öffnest. Oder er dich anschauen soll, bevor er zu etwas hingehen möchte. Auf diese Weise bringst du dich ein in sein Leben und er entwickelt Interesse daran, dich zu beteiligen.

Bindung ist ein Prozess. Es gibt keine Übungen, die eine gute Bindung ausmachen, sondern es ist das Verständnis füreinander und für die Bedürfnisse. Es ist der Aufbau von Sicherheit und Vertrauen und es ist das Angebot von Freundschaft und Sicherheit durch eine Welt, die dein Hund erst kennenlernen muss.

Lasst euch Zeit, lernt euch kennen, habt Freude aneinander und werdet ein Team! Ich wünsche dir viel Erfolg!

Sei bei unserem Aktionstag am 26.3.2022 bei. Auch darüber werde ich mit Olaf Neumann, Ines Scheuer-Dinger und Christiane Jacobs sprechen.

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Ariane Ullrich

Ariane Ullrich

Ariane Ullrich ist Verhaltensbiologin, Initiatorin des Hundekongresses, Hundetrainerin, Hundetrainertrainerin, Autorin und Referentin.

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